Zwei glückselige Brüder

in österlicher Freude

 

von P. Erwin Honer CMF

Erzbischöflicher Konsistorialrat

 

I.                    Familie Roca

ist eine ganz normale Familie in einem ganz gewöhnlichen Dorf namens Alpens in Katalonien. Die Tages- und Lebensabläufe im Dorf sind geregelt und geordnet und gleichen einander. Nur die Sonne Kataloniens, der Wind und die Wolken tauchen die nahegelegenen Pyrenäen in ein je anderes Licht. Vater Alfonso ist froh und zufrieden, dass er als Schneidermeister seine große Familie ernähren kann. Ganz nach dem biblischen „Wachset und mehret euch“ hat ihm seine Frau Mercedes eine große Schar Kinder geboren. Das war damals nicht ungewöhnlich. Außergewöhnlich war allerdings, dass vier Söhne Claretiner wurden. Da war Gonzalo, der mit 18 Jahren Profess ablegte, aber schon acht Jahre danach in Solsona starb. Der Jüngste, Alfonso, wurde 1922 zum Priester geweiht, und starb 1963 in der Afrika-Mission. Mir haben es die beiden Brüder Ramón und Jakob angetan. Ramón, den tüchtigen Schneidermeister, kenne ich nur von den Erzählungen seines Bruders. Mit Jakob habe ich in Wien zusammengelebt, ihn sehr geschätzt, ja geliebt.

II.                  Die beiden Brüder

haben sich in ihrer Familie gut aufgehoben und geborgen gefühlt, sind aber innerlich schon bald in etwas Größerem aufgegangen: in einer – in Katalonien – neu entstandenen „Familia Claretiana“. Sie waren keine Zwillinge. Aber in ihrer Sehnsucht, sich ganz durchdringen zu lassen von dem, was ihnen ihr Großvater über den Wanderprediger und Volksmissionar Padre Claret begeisternd erzählte, waren sie zwillinghaft geeint. Das praktizierte religiöse Leben in der Familie hat ihnen tiefe Glaubenswurzeln verliehen, und die begeisternden Berichte über Padre Claret haben ihnen Flügel wachsen lassen. So sind beide Claretiner geworden. Beide wollten nicht hoch hinaus, sondern bei ganz einfachen Diensten, bei ganz einfachen Menschen bleiben, für die sie da waren, für die sie ‚zu haben‘ waren. So haben beide sich nicht zum Priesteramt berufen gefühlt, sondern wollten ganz bewusst einfach ‚Bruder‘ sein, jedem ein Bruder sein. Gerade dieses ganz alltägliche Dasein als Bruder und ihre brüderlichen Dienste haben bei ihnen unter Gottes Segen eine geradezu sakramentale Dimension angenommen. Verkündet haben sie das Evangelium durch ihr Tun und ihr Lebenszeugnis – und wenn es nötig war mit Worten: ganz unaufgeregt, unaufdringlich, aber umso eindringlicher. Darin sind sie sich brüderlich ganz nahe geblieben, obwohl sie geographisch weit voneinander entfernt waren. Sie haben in ihrer lebensfrohen, furchtlösen, gelösten Präsenz wie auf verklärte Weise irgendwie Himmel und Erde verbunden.

III.                Bruder Ramón

war sechs Jahre älter als Jakob. Schon mit 18 Jahren hat er Profess abgelegt und war in Solsona über 20 Jahre Schneider und Pförtner. Durch seine vertrauenerweckende und liebenswürdige Art und Weise, wie er mit Menschen umging, war er der geborene Kloster-Pförtner: stets verfügbar, verlässlich, sehr achtsam und tief gläubig. Nie verlor er seine ihm eigene Lebensfreude, die auch keine Angst vor dem Tod kannte. „Es kommt sowieso so, wie Gott es will“. Fast die gleichen Worte kenne ich aus dem Mund seines Bruders Jakob. Als Ramón mit 41 Jahren von Solsona nach Cervera kam, begann sich das politische Klima gegenüber Kirche und Ordensleuten zu verschärfen. Im Juli 1936 brach der Spanische Bürgerkrieg aus. Die Lage spitzte sich zu. Vier Tage nach Beginn des Bürgerkriegs mussten über 150 Claretiner ihr Haus – Kloster - räumen und verlassen. Alle liturgischen Gewänder wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Es war ca. um die neunte Stunde des 26. Juli, also gegen 3 Uhr nachmittags. Nur noch Bruder Antonio und Bruder Ramón hielten sich versteckt in der Nähe des Landgutes ‚Mas Claret‘. Antonio wurde, als er unterwegs einen Priester traf, und noch bei ihm beichten wollte, kurzerhand erschossen. Ramón versteckte sich bei Familien oder in einer Höhle im Wald. Er kam nur -  wenn es die Lage zuließ – zur Heiligen Messe und zum gemeinsamen Beten – bis auch dieses verboten wurde… Diese prekäre Situation machte ihn sehr nachdenklich. Er ahnte, dass sie auch ihn töten würden. „Gott gäbe mir die Kraft in diesem Moment!“ Zwar hätten die Milizionäre den Schneidermeister Bruder Ramón gut für ihre Zwecke gebrauchen können… aber dann kamen ihnen Bedenken. Als er abgeholt wurde, verabschiedete er sich: „Betet für mich, ich werde es auch für euch tun“. Zu einem Besucher im Gefängnis sagte er: „Francisco, bis zum Himmel…“ Nachts um halb Zwei, schleppten sie ihn – 47 Jahre alt – zum Friedhof von Cervera. „Aus Liebe zu Gott vergebe ich allen.“ Dann fielen die Schüsse am Friedhofstor. Der Tag seines Martyriums ist der 24. September 1936. Der rote Faden seiner Lebensentschiedenheit als „Missionar – bis zum Ende“ hat sich im Blut seines Martyriums fortgesponnen und möchte in unser Lebens- und Glaubensgewebe aufgenommen werden.

IV.                Bruder Jakob

Zu der Zeit, als sein Bruder Ramón in Spanien erschossen wurde, war Bruder Jakob schon viele Jahre in Deutschland. Sein heiteres Wesen, das direkt ansteckend wirkte, hat im Kolleg in Weißenhorn viele Buben richtig aufgemuntert. Ein ehemaliger Provinzial meinte, dass er mehr Buben zu den Claretinern gebracht hatte als die Präfekten… Was ihm unendlich Spaß gemacht hatte, war: ‚Leute nachzumachen‘, wie sie zum Beispiel in die Kirche kommen, sich umschauen, und ihren Platz einnehmen… Bei jeder Imitation wirkten ganz normale Bewegungen und Gesten urkomisch. Bei höheren Oberen hat es besonders komisch – erheiternd – gewirkt… Um seine Freudentränen aufzuhalten, hat er nur mit seinen geballten Fäustchen sich genüsslich die Augen gerieben. 1952 kam er nach Wien, wo er bis zu seinem Tod 1980 ein großer Segen war und viel Freude auslöste. Er strahlte eine bedingungslose Lebensfreude aus, ein festes Gottvertrauen und tiefes Zufrieden-Sein-Können. Er hat die Kunst besessen, da, wo er gerade war,  Atmosphäre und Raum zu schaffen, indem der andere der sein konnte, der er war. In Bruder Jakobs Vertrauen geborgen, brauchte man sich nicht zu verstecken. Man brauchte auch keinen Schein zu wahren und keine Angst zu haben, nicht zu genügen. Hier bei Bruder Jakob bin ich Mensch, hier darf ich sein. Die Kraft seiner Menschlichkeit hat oft eine lähmende Ohnmacht aufgebrochen. Als z.B. ein Mann starb – der aber nie den Weg zur Kirche fand – fragte er uns, wie man beim Kondolieren auf Deutsch sagen muss: „Herzliches Beileid“, sagen wir. Er wiederholte es, sagte es vor sich hin, vergaß es unterwegs, und flüsterte, dort angekommen: „Herzlichen Beifall“… Da blieb ein im Ansatz ersticktes Lächeln buchstäblich im Hals stecken. Alle haben ja verstanden, was er sagen wollte… es war nur noch Freude und Dankbarkeit, dass Bruder Jakob in diesen schweren Stunden gerade zu ihnen kommt und wohltuend tröstend nahe bleibt. Was für ein Mensch, was für ein Mann der Kirche! Die größten Kommunisten im Ort ließen nichts, rein gar nichts, über Bruder Jakob kommen. Er war auch ihr Bruder! Als wir – der Pfarrer und ich als Kaplan –  mit dem Auto zum Geburtstag einer Mitarbeiterin fuhren, mit einer Torte auf dem Rücksitz  – und Bruder Jakob beim Einsteigen nicht schaute, war die halbe Torte eingedrückt… Da war nichts mehr zu richten. Bei der Feier meinte Bruder Jakob nur: „Heute habe ich den tiefsten Eindruck hinterlassen“. In seiner Nähe habe ich nie eine Peinlichkeit erlebt. Immer hat sich alles in Freude und Lachen aufgelöst. Er war in seiner Menschlichkeit und seinem Glauben so tief verwurzelt, dass er von dort her wusste, dass er und sein Tun – ohne perfekt zu sein – einfach in Ordnung war. Er tat, was das Herz ihm sagte. Ganz maßgeblich hat er dazu beigetragen, dass unser Pfarrbetrieb seine Seele nicht verliert. In seiner Aufmerksamkeit für Gewährtes hat Bruder Jakob immer eine Dankadresse gehabt. Deshalb hat er fast nicht verstehen wollen, warum manche Menschen nicht mitfeiern, z.B. beim Erntedank. „Wissen sie nicht, wem sie alles zu verdanken haben?“ Wer nur sich selber alles verdankt, wird mit der Zeit hart und ungenießbar. Er hat darunter gelitten, dass manche Menschen zwar sagen, dass sie Gott lieben – aber sie lieben ihn – nach Meister Eckhart – wie eine Milchkuh. Sie benützen ihn nur. Wenn über Bruder Jakob gesprochen wurde, hat sich bei den Anwesenden der Mundwinkel verbreitert und mit gelöster Freude umspielt. Jakob hat frühzeitig gespürt, dass die Kirche keine verbietende Kraft mehr hat. Er hat‘s mit der gewinnenden versucht. Als ich eine Geschäftsfrau aus der Nachbargemeinde nach einem plötzlichen persönlichen Schicksalsschlag antraf, und versuchte nachzufragen, was ihr da helfen könnte, meinte sie nur: „Machen Sie sich keine Sorgen, heute Nachmittag fahre ich zu Bruder Jakob – dann geht es mir wieder besser.“ Für mich – und tausende andere – zählt Bruder Jakob auch zu den Seligen - auch ohne Proklamation durch Rom.

Sein Lieblingslied war „mein Gott welche Freude…an dem Tag an dem du kommst“. Wie oft hat er dieses Lied gesummt oder wenn z.B. die Glocke an der Pforte klingelte, dem Ankommenden entgegen gesungen! Wenn dieser in die Melodie einstimmte, strahlten ihm zwei funkelnd-leuchtende Augen entgegen und ein Gesicht voll Lachen und Freude. Willkommen bei Bruder Jakob! Dieses Lied haben wir in herzlicher Zuneigung bei seiner Beerdigung gesungen. Sein Sterbebildchen habe ich bewusst nicht – wie damals allgemein üblich – mit einem Schwarzweiß-Foto versehen, sondern mit einem Farbfoto gestaltet, einem Schnappschuss mitten aus dem Alltag: Bruder Jakob ‚lachenden Mundes‘. Als Text habe ich unter anderem geschrieben: „Ihm zu begegnen war: Freude,

                      mit ihm zu reden: Wohltat,

                      mit ihm zusammen zu sein: Erlebnis.

Durch ihn hat uns die Güte und Menschenfreundlichkeit Gottes angestrahlt“

Auf seinem hellen Grabstein in Wien-Hirschstetten steht für immer eingemeißelt: „Er liebte und war fröhlich“. Die herzerwärmende Er-Innerung an Bruder Jakob hat sich in Hirschstetten und in unserer St. Claret-Gemeinde so tief und innig eingeprägt, dass wir jedes Jahr zu Allerseelen – rund um seinen Sterbetag - über zwanzig Minuten zu Fuß zu seinem Grab gepilgert sind, für ihn gebetet und sein Lieblingslied gesungen haben – 30 Jahre lang! Und es klingt noch in uns weiter – nach bald 40 Jahren! Wenn wir es heute singen, wird Bruder Jakob immer noch in unserem Inneren lebendig – und wir meinen die Freude zu sehen, die ihm ins Gesicht geschrieben war…

V.                  Zwei Brüder in österlicher Freude

Bei der Seligsprechung der Claretiner-Märtyrer in Barcelona am 21. Oktober 2017 sah ich in meinem geistigen Auge durch den Basilika-Himmel der Sagrada Familia die beiden Claretiner-Brüder einander in herzlicher Zuneigung umarmen. Beide in weißen Gewändern – in österlicher Freude. Ihr Lebenszeugnis hat sie beide zu Märtyrern werden lassen. Der eine – durch sein Blut -  seliggesprochen, der andere – durch sein Zeugnis – seliggepriesen. Unter mehr als einer Million Ordensleuten sind sie zwei ganz besondere Brüder. Ihre immerwährende österliche Freude möge in uns Lust und Freude auslösen, österlich gesegnet zu leben, zu lieben, zu helfen und zu heilen.